Wir Menschen tragen von Geburt weg unbewusst Programme und Verhaltensmuster in uns. Unsere ersten Erfahrungen im Kontakt mit unseren wichtigsten Menschen, den Eltern (Mutter und Vater) können diese Programme sowohl bestärken als auch in Frage stellen. Im Laufe des Lebens werden diese weiter ausgestaltet, um uns ein Leben lang zu begleiten.
Im Normalfall verbringt der Mensch sein 1. Lebensjahr in totaler Abhängigkeit von seiner Mutter. Die mütterliche Nestwärme vermittelt dem Kleinkind körperlichen und emotionalen Schutz, Wärme, Aufgehobensein und Vertrauen. Das Neugeborene ist sich in dieser Phase des Aufgehobenseins natürlich keiner Abhängigkeit bewusst. Der Mann, der Vater bleibt auch in unserer emanzipierten Kultur in den meisten Fällen noch im Hintergrund.
Mädchen beginnen recht früh, sich auch am männlichen Gegengeschlecht auszurichten. Ihr Vater ist zugleich auch Mann, den sie sogar in Konkurrenz zu ihrer Mutter auch umwerben können. Ihr aktives Interesse am Männlichen, dem Vater, kann auch ihre Abhängigkeit von der Mutter auflösen.
Die Identifikation des Knaben mit seiner Männlichkeit, dem Männlichen, beginnt erst später. Es scheint, dass er wenig Grund hat, sich aus der mütterlichen Schutzzone heraus zu entwickeln. Als Muttersohn gewöhnt er sich an das Mütterliche, das Umsorgende und hat guten Grund, das Weibliche auch in der Mutter zu erleben. Zu dieser Zeit muss er sein eigenes Mannsein in Konkurrenz zum Vater noch nicht entwickeln.
Der angehende Mann hat während seiner Jugendzeit keinen Grund, anstelle seines Mutterbildes ein anderes Frauenbild zu entwickeln. Viele Männer sind sich nicht bewusst, ob sie einer Frau nachjagen oder lediglich einer "neuen Mutter". Vermutlich gibt es viele Männer, die ihre Erwartungen an die Frau nicht bewusst von den Erwartungen an die Mutter unterscheiden. Allenfalls kann es verführerisch sein, später einmal die Frau ausserhalb des Mutterhaushalts zu suchen.
Es scheint, dass junge Frauen unbewusst um ihren Mann werben, indem sie dem Umworbenen nicht nur ihre Weiblichkeit, sondern auch gleich noch ihre Mütterlichkeit anbieten. Ein Aspekt des Emanzipationsprozess betrifft die Ablösung von einem Männerbild aus dem gewachsenen Vaterbild (aus dem Gefühl: ich wünsche mir einen Mann an meiner Seite, der mich begehrt, schützt und den ich bemuttern kann). Die Vatertochter entwickelt sich zu einer eigenständigen Frau, die den Mann in seinem Mannsein herausfordern wird, um von ihm als Partnerin wahrgenommen zu werden. Da sich der Mann gerne in der Komfortzone des Weiblichen und Mütterlichen eingerichtet hat, von wo aus er ganz gerne als Macho weitere Frauen gegen die Konkurrenz anderer Jäger erobern möchte, muss auch er lernen, sich vom Mütterlichen in der Frau zur gleichberechtigten Partnerin umzuorientieren.
Es gehört zum Mannsein, sein unbewusstes mütterliches Frauenbild, weit über die übliche Pubertät (Befreiung aus der Abhängigkeit) hinaus, beizubehalten. Männer pubertieren ganz gerne bis ins hohe Alter und verteidigen dies als Männlichkeit, wobei sie von vielen Frauen dabei ganz gerne unterstützt werden, weil es sich so für beide Seiten ganz gut lebt.
Es scheint, dass in unserer Gesellschaft das Beibehalten des unbewussten kulturellen Erbes stärker wirkt, als die Bewusstwerdung des eigenen Weiblichen und Männlichen. Viele Männer sind auf dem Wege, das Weibliche in sich zu entwickeln, ebenso wie viele Frauen auf dem Wege sind, das Männliche in sich zu entwickeln. Wer mit kritischem Auge die diesbezügliche Entwicklung betrachtet, muss wohl zum Schluss kommen, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Die Frage bleibt vorerst: „Wieviel Männlichkeit steht dem Mann zu und wieviel Weiblichkeit der Frau und was wollen wir darunter verstehen?“